Frauen-Heilkreis

mit Susanne Huber und Waltraud Ertl, Wien, Mai 2010

Ein Abend von Frauen, für Frauen, mit Frauen. Ich bin aufgeregt, gespannt, neugierig. Susanne kenne ich, das ist lange her. Heute ist sie Schamanin. Genauso wie Waltraud, die ich noch nicht kenne. Warum es mich hierher zieht? Frauen, ja, und die Vergangenheit. Verbindungen, die das Leben so knüpft, und dieser rote Faden, der meistens unbemerkt durch eben dieses läuft.

Manchmal hat man die Chance, und sie kommt meiner Meinung nicht allzu oft, diesen Faden in Händen zu halten und ein Stückchen mitzuverfolgen, wie er sich so windet, durch die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Wie die sogenannten Zufälle, die eigentlich keine sind, und die Menschen, denen wir begegnen, alle einen Teil unserer Geschichte mitschreiben. Auch wenn wir sie jahrelang nicht mehr gesehen oder nicht einmal an sie gedacht haben. Sie sind scheinbar aus unserem Leben verschwunden, und dann plötzlich, tauchen sie vollkommen unerwartet wieder auf.

Und so ist dies nun die Geschichte über einen Abend mit Frauen, ein Erfahrungsbericht über einen Heilkreis und meine ganz persönliche roter-Faden-Findungs-Geschichte.

 

Wir nehmen alle im Kreis auf dem Boden Platz und werden von den beiden Schamaninnen begrüßt. Der Duft von Räucherstoffen erfüllt den Raum. Die Gerüche sind mir fremd, meinen Sinnen unbekannt. Nach einer Begrüßungs-Runde beginnen wir zu tanzen. Die Bilder sind fast augenblicklich da. Auch spüre ich das Energiefeld, das sich aufbaut.

 

Ich fühle mich unglaublich traurig. Ich bin die Nacht, die Dunkelheit, das Licht des Mondes auf meinem Gesicht – die schwarze Frau, lange, pechschwarze Haare fallen auf meinen Körper hinab. Ich weine stumme Tränen. Ich vermisse mein Herz, meine Liebe, das Licht, die Sonne. Den weißen Mann mit den leuchtenden Augen. Er ist verschwunden, hat mich verlassen. Und ich weine bittere Tränen. Meine Kinder, meine Wünsche sind grau und tot. Liegen begraben in der Erde, stumm und verloren. Ich weine und weine, bis der Wald mich ruft.

 

Ich folge einem Pfad ins Innere des Waldes, in sein dunkelgrünes und pulsierendes Herz. So lebendig. Das Wesen der Bäume, die mich umgeben, lindert meinen Schmerz, meine Traurigkeit. Ein Baum streckt mir einen Ast entgegen, wie eine Hand. Und diese Hand hält einen goldenen Schlüssel, der für mich bestimmt ist. Ich nehme den Schlüssel und danke meinem Freund, dem Baum. Zum ersten Mal empfinde ich wieder Hoffnung. Hoffe, dass ich einen Weg finden kann mein Herz wieder zu öffnen um das Leben wieder zu spüren. Mein Lächeln wieder in meinem Gesicht zu fühlen und in meinem Herzen zu spüren. Ich hänge mir die Kette mit dem Schlüssel um den Hals und folge dem Pfad aus dem Wald hinaus. Ich verlasse den Friedhof meiner Kinder und Wünsche.

 

Aus dem Wald hinaus trete ich in das wilde Treiben eines orientalischen Bazars. Die Stille und das dunkle Grün der Bäume werden abgelöst von einer Vielzahl von Farben, Gerüchen, Geräuschen. Es gibt magische Gegenstände in allen Arten und Formen. Hier muss ich suchen, ich weiß es, hier werde ich etwas finden, das mir helfen kann auf meinem Weg. Doch als ich durch die engen Gassen wandere merke ich, dass ich nichts habe um den Gegenstand, wenn ich ihn finde, zu kaufen oder zu tauschen. Traurig verlasse ich den Bazar. Große Enttäuschung macht sich in meinem Herzen breit.

Ich folge einem schmalen Fußweg, der ans Meer führt. Ich kenne diese Küste, dieses Meer, diesen Ort. Ich bin in Chile, auf der Insel Chiloe. Und plötzlich steht sie vor mir, die Pincoya, der weibliche Schutzgeist des Meeres. Ihre goldenen Haare glänzen in der Sonne und sie streckt mir ihre Hand entgegen. Ich nehme sie und gemeinsam wandern wir über die Wellen, über das Meer. Ich sehe all diese Fische und buntes Meeresgetier, das Wasser voller Leben, und die Pincoya und ich mitten darin. Mein Herz klopft ganz leise voller Glück, zum ersten Mal seit langer Zeit. Ich spüre wie die Fische ganz sanft meine Füße berühren als sie an uns vorbeischwimmen. Lange Zeit begleite ich die Pincoya auf ihren Wanderungen über das Meer. Bis es Zeit ist Abschied zu nehmen. Die Pincoya küsst meine Wangen und ich spüre ihren salzigen Atem, der mein Gesicht streift. Sie legt eine wunderschöne Perle in meine Hand. Mein Geschenk. Dann verschwindet sie in den Tiefen des Meeres.

 

Ich lache und mache mich auf den Weg zum Bazar. Dort suche ich nicht lange. Ich finde eine faustgroße, gelbe Pyramide, matt glänzend liegt sie in meiner Hand. Ich tausche sie gegen meine Perle. Und mache mich auf den Weg nach Ägypten.

 

Ich stehe mitten in der Wüste vor den riesenhaften Pyramiden und empfinde Angst, Trauer, Müdigkeit, Hitze und Durst. Ich sehne mich nach einer kühlen Brise, Meeresrauschen, nach frischem, saftigen Gras und klarem Wasser. Ich habe den falschen Weg eingeschlagen. Die Pyramide kann mir nicht helfen. Ich muss sie hier zurücklassen, so wie ich andere Dinge zurücklassen muss, alte Dinge, die mir nicht mehr helfen können, die mir mehr schaden als nützen. Abschied nehmen. Ich bin so erschöpft, so traurig, so müde. War der ganze Weg, der Schlüssel des Baumes, die Perle der Pincoya, war das alles umsonst gewesen? Ich falle in tiefen Schlaf und träume.

 

Mitten in der heißen Wüste träume ich von einem Strand in Irland, von weiten, grasbedeckten Ebenen. Ich laufe, ich laufe mitten in einer Herde Wildpferde, alle Farben, weiße, rote, braune, schwarze Pferde, Stuten, wir fliegen dahin, frei und schnell wie der Wind. Unsere Mähnen fliegen mit dem Wind, der an unseren Leibern entlang streift, die Nüstern blasen Lebenslust heraus und diese Lebenslust läuft mit uns und strömt um uns herum. Die Bewegung der Herde wogt wie ein Meer, ich werde getragen von Wellen positiver Energie und Freude.

 

Und dann sitze ich in einem Kreis von Frauen, wir feiern, rund um uns Menschen, Frauen, Kinder, Männer. So viele rothaarige Köpfe, glückliche Gesichter, Blumenkränze werden herumgereicht, Weinkrüge, Essen. Wir feiern das Leben. Ich sehe sie, die Priesterin, die Göttin, die rothaarige Magierin, sie sieht mich an und ich weiß, sie ist ein Teil von mir. Wir treten aufeinander zu. Wieder bekomme ich ein Geschenk. Ein Pferdchen, aus grünem Gras geflochten, hängt nun an einer Kette um meinen Hals.

Ich erwache aus meinem Traum, aber nicht in Ägypten. Nun bin ich endlich an dem Ort angekommen, den ich gesucht habe. Der Ort, an dem ich Susanne vor mehr als 15 Jahren kennen gelernt habe. Ich trete ein in dieses Gebäude, es ist dunkel und doch sehe ich Tageslicht. Ich wiederentdecke diesen Ort, nichts hat sich verändert. Ich sehe Martin und das Gras-Pferdchen um meinen Hals lässt ein Hufeisen fallen, das ich Martin um den Hals hänge um mich zu verabschieden. Ich treffe weitere alte Bekannte, Menschen, die eine Zeit lang wie eine Familie für mich waren. Und doch keine Familie, aber Menschen, die mir in einer sehr schwierigen Zeit Halt gegeben haben. Die ich dann wieder verlassen habe und dieser Abschied ist mir sehr, sehr schwer gefallen. Jedem von ihnen schenke ich etwas von meinem Gras-Pferdchen.

 

Doch etwas scheint – falsch! Es ist nicht an der Zeit von all diesen Menschen Abschied zu nehmen und mein Gras-Pferdchen zu verlieren. Ich suche doch etwas! Jemanden.

 

Ich suche – mich. Ich suche das Mädchen, das ich mit 18 Jahren war. Ich suche sie mit ihrer Einsamkeit und ihrem Schmerz, ihrer Wut und ihrer Trauer. Und dann sehe ich sie ganz hinten in einem der Zimmer. Ich gehe auf sie zu, langsam, nehme sie in den Arm und drücke sie ganz fest an mich. Ich flüstere ihr ein Versprechen ins Ohr, dass ich sie niemals wieder alleine lassen werde. Wir haben uns gefunden, sie und ich.

 

Mein Gras-Pferdchen wächst, bis ein lebensgroßes Pferd vor uns steht. Wir steigen beide auf seinen Rücken und mein Pferdchen galoppiert geradewegs in den Himmel mitten durch die Wolken, immer weiter hinauf Richtung Sonne. Ein Regenguss überrascht uns und dann breitet sich ein riesengroßer Regenbogen über das gesamte blaue Himmelszelt aus. Ich bin so glücklich – und die schwarze Frau in mir wird bunt, alle Farben des Regenbogens bekomme ich geschenkt. Und das Mädchen, mein Mädchen ist jetzt in meinem Herzen, ich kann sie nicht mehr verlieren, niemals.

 

Ich sehe die Nacht, den Mond und die Sterne und gleichzeitig den Tag, die Sonne und mein Licht, den weißen Mann. Wir reichen uns die Hände und Tag und Nacht werden eins. Und ich bin wieder zurück am Ausgangsort meiner Reise. Ich stehe in meinem Garten, doch die Gräber sind fort. Meine Kinder, meine Wünsche sind alle lebendig, laufen bunt durcheinander. Sie lachen, laufen, tanzen, singen, schreien, toben, machen Lärm und Unsinn. Das totale Chaos.

 

Aber das macht mir nichts aus, ich bin glücklich und sehr lebendig. Ich lasse sie sein wie sie sind, meine Wünsche, meine Sehnsüchte, meine Träume, diese kleinen, bunten Sehnsuchtsbällchen, die munter durch die Gegend springen. Und mein Herz öffnet sich, ganz ohne goldenen Schlüssel.

 

Ich bin sehr berührt am Ende dieser Reise. Ich beobachte die anderen beim Trance tanzen. Während einer abschließenden Meditation kommt noch einmal sehr viel Trauer hoch und mein Herz tut weh. Es ist dann aber, nach anfänglicher Schüchternheit, sehr schön in der Abschluß-Runde zumindest einen Teil meiner Reise mit den anderen Frauen zu teilen.

 

Was ich noch gelernt habe, wie das so mit roten Fäden ist, dass diese oft verwebt sind wie das Netz einer riesigen Spinne. Und die Begegnungen und Erlebnisse der letzten Jahre möglicherweise ganz anders ausgesehen hätten, wenn, ja wenn ich nicht bei meiner Suche nach einer schamanischen Gruppe hier in Wien über das Foto von Susanne gestolpert wäre, nach so langer Zeit. Aber vielleicht wären sie doch ähnlich verlaufen, wer kann das schon jemals mit Bestimmtheit sagen?

 

In meinem Fall bedanke ich mich für die Art und Weise, in der sich die Vergangenheit mit meiner Zukunft verbunden hat und mich hier zu diesem Gegenwarts-Moment auf einen Weg geführt hat, der, wenn auch oft schwierig zu gehen ist, mich mit tiefer Freude und Dankbarkeit erfüllt.

 

 

Martha, Mai 2010 und März 2012

Martha's Wortgarten